Wer verdrängt hier wen?

Während sich immer mehr Abiturienten für eine Berufsausbildung entscheiden, schaffen immer weniger Hauptschüler oder junge Leute ohne Schulabschluss den Sprung in die Lehre. Zu diesem Ergebnis kommt zumindest eine Studie im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung. Doch findet deshalb ein Verdrängungswettbewerb statt? Keinesfalls. Zumindest nicht im Handwerk. Ein Blick auf die Zahlen in unserem Kammergebiet verdeutlicht das: Knapp 1.000 Jugendliche mit Hauptschulabschluss haben im vergangenen Jahr in unseren Handwerksbetrieben in der Region eine passende Stelle zu ihren Talenten und Fähigkeiten gefunden. Auch für motivierte Schulabbrecher gibt es in unseren Betrieben zwischen Ostalb und Bodensee Möglichkeiten, eine handwerkliche Karriere zu starten. So haben von den 2.683 Jugendlichen, die sich 2022 für eine Ausbildung in unserem Handwerk entschieden haben, 81 junge Menschen ihre Schulausbildung nicht abgeschlossen. Die Chancen eine Lehrstelle zu finden, sind also für alle Schulabgänger gut: Egal ob Schulabbrecher, Hauptschüler, Realschüler oder Gymnasiast – gerade in Zeiten des Fachkräftebedarfs sind wir um jeden froh, der motiviert ist und mitanpacken will. In unserem Kammergebiet sind momentan noch rund 500 Lehrstellen in den unterschiedlichen Gewerken frei. Es mangelt also nicht am Willen unserer Betriebe. Viele von uns wollen ausbilden und brauchen dringend Personal, das die Kundenaufträge abarbeitet. Der Schulabschluss der Bewerberinnen und Bewerber spielt für die Meisten von uns nur eine Nebenrolle. Das belegt auch die jüngste Umfrage unserer Kammer zu den angebotenen Lehrstellen der Handwerksbetriebe. Mehr als jeder zweite befragte Betrieb gibt dabei an, dass Bewerber mit Hauptschulabschluss willkommen sind. Jeder Vierte sagt, dass der Schulabschluss bei der Vergabe der Ausbildungsplätze überhaupt keine Rolle spielt. Wichtiger ist für uns Handwerkschefs bei der Auswahl unserer Azubis der persönliche Eindruck. Wir fragen nicht nach Schulnoten. Wir wollen wissen, ob ein Bewerber motiviert und engagiert ist. Es kommt weniger darauf an, von wo ein Jugendlicher herkommt, sondern vielmehr, wo er hinwill.

Michael Bucher, Vorstandsmitglied der Handwerkskammer Ulm aus dem Landkreis Ravensburg.

Dieser Kommentar ist erschienen in der DHZ-Ausgabe 05-2023.